Navigation auf uzh.ch

Suche

Jacobs Center for Productive Youth Development

Interview mit Boris Quednow (NZZ, 26.12.2021)

Das Interview kann auch in der NZZ gelesen werden (nur mit Anmeldung)

Herr Quednow, mehr als die Hälfte der 20-jährigen Zürcherinnen und Zürcher hat gemäss Ihrer Studie im letzten Jahr vor der Befragung gekifft, jeder siebte hat Opioide konsumiert, jeder neunte gekokst oder Ecstasy konsumiert. Sind Sie überrascht?

Ja, es waren deutlich mehr, als wir erwartet haben. Und wir wissen, dass die Angaben stimmen, denn sie wurden inzwischen anhand parallel durchgeführter Haaranalysen weitgehend bestätigt.

Welches Ergebnis haben Sie denn erwartet?

Auf jeden Fall tiefere Werte. Es wurde einige Jahre zuvor eine Studie bei Schweizer Rekruten gleichen Alters durchgeführt, aber dort wurden nur Männer befragt. Damals lagen die Werte deutlich niedriger. Aktuell gibt es jedoch keine anderen Studien, mit denen man unsere Zahlen plausibel vergleichen könnte.

Im Rahmen der Studie wurden knapp 1200 20-jährige Zürcherinnen und Zürcher befragt. Sprechen wir hier also vom Substanzkonsum der Städter?

Wahrscheinlich ist der Stadt-Land-Unterschied nicht so gross, wie man vielleicht annehmen würde. Die erwähnte Rekruten-Studie etwa zeigte keinen grossen Stadt-Land-Graben. Natürlich ist das Substanzangebot in der Stadt grösser, aber dieses steht ja auch Personen aus dem ländlichen Umland offen, wenn sie zum Beispiel in Zürich feiern gehen.

Was in der Studie ebenfalls auffällt: Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen waren nicht sehr gross.

Auch das hat uns überrascht. Bei den Opioiden und Benzodiazepinen, die nicht zu medizinischen Zwecken eingenommen wurden, gab es beispielsweise gar keinen Unterschied. Was die Opioide angeht, wurde hauptsächlich Codein konsumiert, das in vielen Hustenmitteln enthalten ist. Die problematischen Konsummuster finden sich zwar auch weiterhin vor allem bei den Männern, aber zumindest beim gelegentlichen und moderaten Konsum haben die Frauen aufgeholt.

Wie kommt das?

Das Risikoverhalten von Frauen hat sich verändert. Ähnliches hat man zuvor bereits beim Rauchen gesehen. Früher galt Lungenkrebs als Männerkrankheit. Das war so lang richtig, so lang Frauen weniger geraucht haben. Seit der Tabakkonsum von Frauen deutlich zugenommen hat, wird die Krankheit auch bei ihnen immer häufiger diagnostiziert. Inzwischen sind Frauen nicht mehr unbedingt vorsichtiger und zurückhaltender als Männer.

Gab es weitere Überraschungen?

Uns hat sehr erstaunt, dass neben Codein häufig auch Schmerzmittel mit Opioiden wie Tramadol, Fentanyl oder Oxycodon verwendet werden. Das sind sehr problematische Substanzen, weil sie noch stärker wirken als Codein. Bisher ging man davon aus, dass der Missbrauch vor allem in den USA stark verbreitet ist, wo seit Jahren eine Opioid-Krise herrscht. Unsere Studie zeigt nun ein etwas anderes Bild. Fast fünf Prozent der in Zürich Befragten 20-Jährigen hatten im letzten Jahr Opiatschmerzmittel konsumiert – nicht für medizinische Zwecke, sondern, um sich zu berauschen. Erfreulich war hingegen, dass Heroin bei jungen Menschen zurzeit kein Thema ist, zumindest nicht in Zürich.

Haben Sie eine Erklärung für die weit verbreitete Lust am Rausch?

Für viele junge Menschen in der Schweiz ist Substanzkonsum zur Normalität geworden. Das war zwar früher bei Alkohol und Tabak auch schon der Fall, doch nun ist die Vielfalt der Substanzen, die konsumiert werden, erheblich grösser geworden. Ecstasy, Kokain und Opiate sind bei den Jungen heute viel weiter verbreitet als noch vor 10 oder 20 Jahren. Zudem sind die Bezugswege einfacher geworden. Durch das Internet kommen die Jungen heute an Substanzen, für die sie früher noch an die Langstrasse gehen mussten. Inzwischen kann man sie sich bequem per Post nach Hause schicken lassen.

Welche Konsequenzen hat das?

Die entscheidende Frage ist für mich: Wie entwickelt sich eine Generation, die gelernt hat, Substanzen für ganz unterschiedliche Zwecke einzusetzen? Junge Leute nutzen Halluzinogene wie LSD in Kleinstdosen zum Lernen oder um sich besser zu fühlen, sie konsumieren Kokain und Ecstasy auf Partys, nehmen Benzodiazepine zum Schlafen und Cannabis für den Stressabbau. Ich schliesse nicht aus, dass diese Generation eine grosse Konsumkompetenz besitzt, und diese Konsummuster gar nicht so problematisch sind, wie wir es uns vielleicht ausmalen. Aber vielleicht ist es eben auch anders, das können wir heute noch nicht sagen, sondern erst in längeren Zeiträumen retrospektiv beurteilen.

Das klingt skeptisch. Sie glauben also nicht an eine positive Entwicklung?

Das Bewusstsein dafür, wie viel konsumiert wird und wie sehr die Schwelle für den Konsum gesunken ist, ist in der Schweiz noch nicht weit verbreitet. Es braucht eine verstärkte Debatte darüber, wie viel Substanzkonsum wir bei unserer Jugend und in der gesamten Gesellschaft tolerieren wollen.

Wie viel wäre für Sie vertretbar?

Ich betrachte die ganze Debatte berufsbedingt natürlich sehr stark aus einer Krankheitsperspektive. Ich forsche in der Psychiatrie und bin im Wesentlichen mit den negativen Seiten des Konsums konfrontiert. Und selbstverständlich braucht es in einer solchen Debatte mehrere Perspektiven. Ich persönlich glaube aber, dass junge Menschen inzwischen zu viele Substanzen nehmen und der Substanzkonsum eine zu grosse Rolle in ihrem Alltag spielt. Generelle Abstinenz ist nicht das Ziel, sondern ein besserer Umgang mit dem Konsum.

Wie meinen Sie das?

Je höher der Konsum in einer Gesellschaft ist, desto mehr Belastungen durch Krankheit haben wir am Ende. Das lässt sich einfach aus den Zahlen zum Tabak- und Alkoholkonsum ableiten. Wenn der Konsum verbreiteter ist, nehmen auch Sucht- und andere Folgeerkrankung zu. Wir wissen, dass bei den täglichen Cannabiskonsumenten zwischen 30 und 50 Prozent eine Abhängigkeit entwickeln. Viele davon bereits im Jugendalter. Das ist eine grosse Belastung für das Gesundheitssystem, aber auch für die betroffenen Familien, Partner oder Unternehmen, in denen diese Personen tätig sind. Das wird unterschätzt.

Sind denn Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen stärker gefährdet, eine Abhängigkeit zu entwickeln?

Ja, Jugendliche haben zum Beispiel ein aktiveres Belohnungssystem als Erwachsene. Sie sind zudem neugieriger und emotional wie kognitiv noch nicht gleich gut reguliert und kontrolliert. Das ist das Wesen der Pubertät. Gut erforscht ist das Problem bei Cannabis: Dort ist das Abhängigkeitsrisiko für Jugendliche fast doppelt so hoch wie bei Erwachsenen.

Sie standen der Legalisierung von Substanzen, über die in der Schweiz verstärkt debattiert wird, bisher immer eher skeptisch gegenüber. Doch Ihre Studie zeigt doch, dass die bisherige Verbotspolitik gescheitert ist. Jeder kommt an Substanzen – trotz Verboten.

Die Prohibition ist ein schlechtes Modell – da sind sich mittlerweile fast alle einig. Grundsätzlich bin ich für eine umgehende Entkriminalisierung des Konsums bei Erwachsenen und Jugendlichen. Bei der Neuregulierung des Handels würde ich aber Substanzen mit vergleichsweise tiefem oder hohem Schadenspotenzial unterscheiden wollen. Eine Legalisierung von harten Drogen wie Kokain und Heroin halte ich für keine gute Idee, weil sie unsere Gesundheitssysteme und die Gesellschaft noch stärker belasten würde.

Was wäre so schlimm, wenn alle Substanzen legal konsumiert werden könnten? Jeder ist doch selbst für sich verantwortlich.

Selbstverantwortung ist ein liberales Ideal, aber nicht alle Menschen sind leider in gleichem Maße dazu fähig. Die Selbstverantwortung kann einem zudem einen Streich spielen, denn gerade bei einer Abhängigkeitsentwicklung ist man ab einem gewissen Punkt nicht mehr frei, mich für oder gegen den Konsum zu entscheiden. Die Übergänge sind fliessend.

Was bräuchte es denn, um die problematischen Konsummuster besser brechen zu können? Repressive Instrumente haben ja offensichtlich nicht gewirkt.

Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Die Entkriminalisierung und Entstigmatisierung des Konsums kann einen grossen Effekt haben, weil sich Betroffene dann eher Hilfe suchen. Auch geht es darum, frühzeitige problematische Muster zu erkennen und niederschwellig Hilfeleistungen anzubieten. Das Suchthilfe- und Beratungssystem ist in der Schweiz schon sehr gut ausgebaut. Weiter verbessern könnte man es aber, indem man noch stärker gemeinsame Standards entwickeln würde – von der Beratung über die frühe Intervention bis zur Behandlung. Es braucht aber auch ein soziales Umfeld, in dem jemandem gesagt wird, wann es genug ist. Und schliesslich müsste die ambulante wie stationäre Behandlung von Jugendlichen mit problematischem Substanzkonsum deutlich ausgebaut werden.

Wann ist denn genug?

Beim Cannabis ist der tägliche Konsum über einen Zeitraum von Monaten oder Jahren bei Jugendlichen wie Erwachsenen sicher ein problematisches Konsummuster. Hier sollte frühzeitig ein Hilfsangebot gemacht werden. Wenn jemand nicht motiviert ist, sollte das Umfeld unbedingt gemeinsam darauf hinwirken, dass jemand Hilfe in Anspruch nimmt.

Sie haben unsere vorhergehende Frage noch nicht beantwortet. Was braucht es zusätzlich, damit weniger Leute einen problematischen Konsum entwickeln?

Man müsste die Konsumkompetenz früh entwickeln und flächendeckend noch mehr Aufklärung zu den Risiken des Substanzkonsums betreiben. Es bräuchte eigentlich in allen Schulformen ein schweizweites Unterrichtsfach «Substanzen und Medikamente», vergleichbar mit dem Sexualkundeunterricht, der inzwischen selbstverständlich ist.

 

 

Weiterführende Informationen

Über 1000 junge Erwachsene befragt

Boris B. Quednow ist Professor für Pharmakopsychologie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Die Befragten in der Studie stammten aus dem Zürcher Projekt zur sozialen Entwicklung von der Kindheit ins Erwachsenenalter (z-proso), das von Manuel Eisner, Denis Ribeaud und Lilly Shanahan vom Jacobs Center for Productive Youth Development der Universität Zürich geleitet wird.

Rund 1400 Kinder wurden seit ihrem Eintritt in die Primarschule im Jahr 2004 regelmässig befragt; die Zahl der Befragten sank im Laufe der Jahre auf rund 1200. Die aktuellste, achte Datenerhebungswelle wurde im Jahr 2018 im Alter von 20 Jahren durchgeführt.

Das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds als Forschungsinfrastruktur von nationaler Bedeutung gefördert